Bergsteigen in Patagonien – Teil 1

Matteo de Zaiacomo

Bergwelt in Patagonien

Patagonien und die Geschichte des Bergsteigens gehen seit jeher Hand in Hand. Der Grund dafür wird in dem Moment klar, indem du einen Blick auf die Berge wirfst. Wenn du Glück hast, kannst du sogar einen Vorgeschmack davon bekommen, indem du aus dem kleinen Flugzeugfenster einen Blick auf die bedrohlichen Silhouetten von Fitz Roy und Cerro Torre in der Ferne erhaschst. Jedes Jahr landen Fotos und Geschichten von unglaublichen Begehungen, blauem Himmel und perfekten Granitwänden auf unseren Smartphone-Bildschirmen. Es ist unmöglich, nicht davon zu träumen, selbst einmal dort zu sein! Und der Traum wird im Laufe der Jahre durch das Lesen und Wiederlesen der manchmal absurden Geschichten verstärkt. Geschichten, die diese Wände zu Legenden gemacht haben! Viele Menschen haben sich für immer von diesen Orten verzaubern lassen. Für mich war Patagonien schon immer der Spielplatz der wirklich Guten, der Besten!

Vorbereitungen

Mir war klar, dass die Welt des Extrembergsteigens jeden Sommer auf der Südhalbkugel einen festen Termin in El Chalten hat, und diese Tradition besteht seit den achtziger Jahren. Es gibt Orte auf der Welt, die nicht nur Orte zum Klettern sind, sondern wahre Hotspots der persönlichen und gemeinschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Ziel der Verbesserung, der Perfektion und der verzweifelten Suche nach Schönheit! Die Wand des El Capitan zum Beispiel hat die gleiche Anziehungskraft und Geschichte, die das Klettern in Bezug auf Stil, Herangehensweise und Respekt vor dem Berg verändert hat. Es waren die Menschen mit ihrem Ehrgeiz, die die Spielregeln perfektionierten und verändert haben, bis wir heute da stehen, wo wir sind. Das Faszinierende ist, dass sich alles weiterentwickelt, und manchmal ist das schönste Geschenk, welches die vorherige Generation hinterlassen hat, der Zweifel, ob etwas noch möglich ist oder nicht. Aus diesem und anderen Gründen habe ich mir die Berge Patagoniens immer als den Ort vorgestellt, der dem Paradies am nächsten kommt, aber noch auf Erden liegt. Ausserdem bin ich ein Ragno di Lecco, und ich brauche nicht zu sagen, wie sehr der rote Faden unseres Pullovers mit den Rissen und dem Eis Patagoniens verwoben ist. Deshalb habe ich bei meiner Ankunft in El Chalten genau das getan, was ich auch bei meiner Ankunft in Yosemite getan hatte: Ich habe den Kletterführer gekauft. Ich wollte es vor Ort tun! Ich wollte dne Führer nicht zu Hause in Europa kaufen, ich wollte den Führer auch nicht im Internet bestellen, ich wollte in ein Geschäft gehen und es dort kaufen und dann aus dem Geschäft gehen und zum Fitz Roy heraufschauen.

Das Gefühl ist trügerisch, so wie die Fotos trügerisch sind, welche wir jedes Jahr auf unseren Handys sehen. Das Gefühl, einen Kletterführer in der Hand zu halten, ist ein Gefühl, sich in den eigenen vier Wänden zu befinden, wo alles noch greifbarer erscheint. Als ich in Kirgyzistan, auf Baffin Island oder am Fusse der Wand von Bhagirathi war, hatte ich dieses Gefühl nicht, denn es gab keinen Kletterführer. Alles war in ein Mysterium gehüllt und der Verstand organisierte seine Gedanken sozusagen auf eigene, bewusstere Weise! Die Gefahren werden bewusster, das Leben im Basislager verstärkt die Einsamkeit und als Folge davon fühlt man sich mit seinen Begleitern in der Wand isoliert. Man weiss genau, dass auf Gedeih und Verderb niemand da sein wird, um einem zu helfen. Dagegen hat man in El Chalten ein anderes Gefühl, während man in der Bar bei einem kalten Bier in seinem Kletterführer blättert. Aber glücklicherweise haben mich die vielen Expeditionserfahrungen gelehrt, riesige Wände wie diese mit einer anderen Einstellung zu begegnen als einer Besteigung im Val di Mello. Vor allem, nachdem man gehört hat, dass der Torre der gefährlichste Berg der Welt ist.

Mein Traum

Ich war noch nie in Patagonien, aber ich wusste, dass ich dieses Land früher oder später besuchen werde. Ich wartete bis jetzt nur noch auf den richtigen Moment. Dafür gab es im Wesentlichen zwei Gründe: Erstens hatte ich ein wenig Angst, mich diesen Wänden zu stellen: wegen ihrer Schwierigkeit, ihrer Geschichte und vor allem wegen der oft schlechten Wetterbedingungen. Zweitens habe ich viele Geschichten von Reisen gehört, die im Nichts endeten, weil die Wetterbedingungen es nicht einmal erlaubten, sich den Wänden zu nähern. Für mich war dies bereits ein zu hohes Risiko. Ich kann mir bestenfalls eine Expedition pro Jahr leisten und wollte nicht im Dorf festsitzen und auf gute Bedingungen warten. Ausserdem war ich schon immer mehr von einsamen Reisen fasziniert, bei denen man seine Emotionen mit Begleitern teilt, weit weg von allen Annehmlichkeiten, die eine Zivilisation bieten kann. Weit weg von diesem verdammten Smartphone, aber auf eine anstrengende Weise mit sich selbst im Einklang.

In El Chalten vermisste ich das einsame Leben im Basislager. Doch sobald ich El Chalten verliess, kehrte die Mentalität des Himalayas zurück. Denn genau das ist es! Trotz der Kletterliteratur und der vielen Erfolgsgeschichten gehören die Berge Patagoniens immer noch zu den wildesten der Welt. Lasst euch nicht verführen von zu vielen Informationen.

Anreise nach Patagonien – 09.01.2022

Am 9. Januar machten David Bacci, Matteo della Bordella und ich uns von Europa aus auf den Weg nach Patagonien. Nachdem wir einen endlosen Stapel Papierkram und Formulare im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie zusammengestellt und ausgefüllt hatten, kamen wir am Morgen in El Chalten an Wir bereiteten sofort unsere Rucksäcke vor, um am nächsten Tag mit einer Ladung Material zum norwegischen Lager aufzubrechen. Unterwegs sehen wir, wie sich der Torre nähert, und die schweren Rucksäcke scheinen leicht bei dem Gedanken, diesen Berg zu besteigen. Tatsächlich bestätigt die Nacht in Nipponino Camp die Brutalität der patagonischen Winde. Das Zelt überlebt an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit und am folgenden Morgen lässt uns der Sturm um unser Leben rennen.

Die Bedingungen der Wände sind gut und alles scheint zu funktionieren, was mir seltsam vorkommt! Die folgenden Tage waren wegen des schlechten Wetters erbarmungslos und wir wechselten uns mit dem Kranksein ab. Ich fühlte mich schon in der Nacht vor dem Schönwetterfenster nicht wohl und die folgenden Schönwettertage blieb ich im Bett, während Teo und David das Material zum Fuß des Torre trugen und eine erste Route auf dem Paragon-Granit genossen. Ich war wütend auf mich selbst, wir waren seit einer Woche dort und ich hatte das erste 3-Tage-Fenster verpasst. Aber es sah so aus, als würde das gute Wetter in der folgenden Woche zurückkehren.

Bis zur britischen Box – 23.01.2022 25.01.2022

Vor uns scheint “das Wetterfenster” zu sein. „DAS FENSTER“! Das Fenster der Saison oder vielleicht des Lebens. Wir wissen, dass ein anderes Team bereit ist, in denselben Tagen die Nordwand des Torre in Angriff zu nehmen. David, Matteo und ich gehen zu Korra und Tomy, um uns mit ihnen zu treffen, ihnen Glück zu wünschen und über unseren Aufstieg zu sprechen und umgekehrt. Korra Pesce hat eine Fülle von Fotos auf seinem Handy, die extrem detailliert die Nordwand zeigen. Er kennt jeden einzelnen Riss, jede Plattenpassage und jede Eisformation. Unsere Aufmerksamkeit konzentriert sich auf einen riesigen hängenden Pilz, der beängstigend in der Leere und direkt über der Route hängt, die wir klettern wollen. Mir gefriert das Blut in den Adern, als ich den Pilz auf den Fotos sehe. Der Pilz widersetzte sich allen Regeln der Schwerkraft, aber er war schon eine ganze Weile da. Es war Korra, der die Worte fand, um mir die Angst zu nehmen. Er hatte die Theorie, dass der Pilz schwebte, weil er sich um eine überhängende Felsstruktur wickelte. Ich weiss nicht warum, aber es beruhigte mich.

Vor dieser Reise nach Patagonien kletterte ich noch nie mit David Bacci. Ich habe jedoch grossen Respekt und Bewunderung für seine Bergsteigerkarriere. Ich habe ihn um einige seiner Begehungen beneidet, so wie er mich wohl um einige meiner Begehungen beneidet hat. Oder vielleicht hätten wir die Berge gerne gemeinsam bestiegen, aber die Gelegenheit hatte sich nie ergeben. Bis zu jenem Morgen des 24. Januar, als wir gemeinsam auf den Berg der Berge gehen! Wir vertrauen einander, als ob wir unser ganzes Leben lang zusammen geklettert wären, ohne zu sprechen, in Stille. Jeder respektiert die Gedanken des anderen. Als wir im norwegischen Lager ankommen, stellen wir fest, dass die Wand voller Schnee ist. Die Worte von Matteo Pasquetto, in dem Video von ihrem ersten Versuch drei Jahre zuvor, kamen mir plötzlich in den Sinn: “Die Wand ist von einer weissen Schneedecke bedeckt, die es unmöglich macht, sie zu besteigen”. Teo ist auch ein wenig nervös, weil er hoffte, die Wand in besserem Zustand vorzufinden. Am nächsten Morgen ist der Plan, so schnell wie möglich anzugreifen, aber bei diesen Bedingungen ist es sinnlos. Wir schlafen ein und verschieben unsere Zweifel auf den nächsten Tag.

Mit der Gelassenheit von Boulderern stehen wir am nächsten Morgen auf und frühstücken, während die Wand in der Sonne liegt und der Schnee schmilzt. Wir machen uns auf den Weg zum Einstieg, ohne die Gewissheit zu haben, dass wir angreifen können. Aber am Fusse angekommen, ist die Situation nun akzeptabel und könnte sich in den folgenden Stunden nur noch verbessern. Wir greifen die Wand sehr spät an, aber Teo kennt den Einstieg und führt das Team blitzschnell an! Teo ist „al top della forma“! In Windeseile erreichen wir die britische Box. Ich hätte gerne auf dem Dach der Box geschlafen, so wie Pasquetto und Teo beim letzten Mal, aber in den letzten Jahren hat sich der Zustand der Box verschlechtert und man kann schon froh sein, wenn nicht einige Bleche vom Wind verschoben werden. Wenn man dabei ist, das Portaledge zu montieren oder Wasser zu schmelzen, merkt man gar nicht, wo man ist. Aber sobald man innehält und sich hinsetzt und den Schatten des Torre an der Wand des Fitz Roy hochklettern sieht, der von den letzten Lichtern des Abends entzündet wird und man nur den Arm ausstrecken muss, um die Box zu berühren, versteht man, dass es wirklich passiert! Dass du jetzt da bist, um den Traum zu leben, der dich seit mehr als einem Jahr begleitet hatte.

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Geburtstag in Patagonien – 26.01.2022

Dies war ein ganz besonderer Tag für mich. Ich feiere meinen Geburtstag, während ich meine Schuhe schnüre und den Aufstieg zur englischen Kathedrale beginne. Es ist soweit! Dann übernimmt David die Führung und fängt an, die Verschneidung zu klettern! Auch er ist in Topform und ich gratuliere ihm zu dem unglaublichen Aufstieg, den er gerade geschafft hat. Dann ist Teo an der Reihe: Als hätte er im Leben nichts anderes getan, klettert er den Überhang hinauf und sichert sich mit den riesigen Friends Nummer sieben und acht: eine Last, die uns einige Opfer kostete, um sie bis hierher zu tragen, ohne die wir aber nicht hätten klettern können. Wir kommen erschöpft am Ende der Verschneidung an. Diese Wand hat uns noch nie etwas gegeben, in den Standplätzen hängen wir wie vollgestopfte Wildschweine, jede Seillänge ist ein Kampf. So ausgesetzt, dass es im Vergleich zu einem Trip in den Hyperspace nichts wäre.

Leider gibt es für heute Abend keinen Schnee zum Schmelzen! Meine Moral sinkt, aber es bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken. Also bauen wir das Portaledge auf, während David, bewaffnet mit einem Eispickel, einige kleine Eisstücke am Fuss eines Risses findet. Wir gehen durstig ins Bett und in unserem Portaledge sind die Zweifel für den nächsten Tag groß. Die bevorstehende technische Seillänge, um auf die Nordseite zu kommen ist eine Unbekannte. Technisches Klettern kann eine zeitliche Qual sein: Dann müssten wir eine horizontale Querung machen, was die schlimmste Situation ist, wenn der Zweite und Dritte mit schweren Säcken unterwegs sind. Auch da wissen wir nicht, wie viel Zeit wir brauchen aber wir wissen, dass es eine schlechte Idee ist, in den heissesten Stunden des Tages in der Nordwand zu sein. Bevor wir “einschlafen”, sage ich noch, dass wir morgen vielleicht ein bisschen früher aufstehen sollten. Ich kann nicht erklären, warum, aber es war klar.

Drei Ragni auf dem Gipfel des Cerro Torre – 27.01.2022

Am 27. war ich zu Beginn wieder an der Reihe. Alles lief reibungslos und schon bald spähten wir in die Nordwand! Die Querung bereitete uns auch nicht allzu viele Probleme und am Ende unseres horizontalen Abschnitts trafen wir Tomy und Korra. Wir haben uns nicht einmal abgesprochen! Wir analysieren die Situation. Unsere Idee, die Nordwand zu erklimmen, erweist sich sofort als die falsche Idee! Diese ist in keinem guten Zustand, zu viel Eis und wo es Felsen gibt, ist es nass. Also schlossen wir uns Korra und Tomy an, die uns eine Länge voraus waren. Sie waren schon vor drei Jahren dort gewesen und es schien der einzige Teil der Wand in gutem Zustand zu sein. Es begann langsam heiss zu werden und Eis zu fallen. David mit Steigeisen an den Füssen und Eispickel in den Händen, war glücklich wie ein Kind und begeistert vom Klettern! Teo folgte dann auf den Felspassagen, bis der Granit schliesslich dem Eis wich. Wir sind alle am Standplatz unter dem hängenden Pilz, den wir ein paar Nächte zuvor auf Korras Handybildschirm gesehen haben.

In diesem Moment sind wir nicht zwei verschiedene Teams, sondern nur fünf Menschen, die einer grossen Gefahr ausgesetzt sind. Es ist nur eine Frage der Zeit und das Wasser, das an seinen Rändern fliesst, legt nahe, dass wir besser so schnell wie möglich von dort fliehen sollten! Korra führt das Team an und die Zeit, die wir brauchen, um die Schuhe zu wechseln, ist für uns dort unten endlos. Wir akzeptieren den Kompromiss, das Seil für diese Strecke zu fixieren und klettern, wie der Blitz die Meter auf der Platte hinauf, wobei wir direkt unter diesem Eis vorbeikommen, das nur an einer Stelle am Felsen befestigt ist. Wir atmen erleichtert auf! Wir waren erschöpft, hatten aber Anschluss an die letzte Seillänge der Spinnenroute. Die Spinnenroute! Mit unendlichem Stolz darauf, Teil der Spinnengruppe zu sein, erreichten drei weitere Ragni denselben Punkt und eröffneten genau 48 Jahre später eine neue Route! David kletterte auf den letzten Pilz und bewies damit einmal mehr, was für ein grossartiger Kletterer er ist! Wir sind oben! Wir sind auf dem Gipfel des Cerro Torre! Ganz oben!

Die Geschichte ist noch nicht zu Ende:

Publish date:
Juli 7, 2023
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